Es vergeht in den Nachrichten aktuell keine Stunde ohne Meldungen zu den Missbrauchsvorwürfen gegen Geistliche und Erzieher in kirchlichen Einrichtungen. Und es ist widerlich.
So widerlich die Vorfälle an sich sind, umso widerlicher stellt sich mir das Verhalten der Verantwortlichen dar.
Frei nach dem Motto: "Es kann nicht sein, was nicht sein darf!" sind die jetzt an den Pranger gestellten Institutionen (und die Kirche insgesamt) Jahrzehnte lang mit derlei Vorkommnissen umgegangen. Und wenn man so viel Aufarbeitung so lange Zeit vor sich herschiebt, kommt irgendwann so viel Übel zusammen, dass bei der dann längst überfälligen Aufarbeitung der Eindruck entstehen kann, die Kirche hätte sich ein gewisses Monopol auf Misshandlung und Missbrauch erarbeitet.
Aber genau an dem Punkt fängt die Angelegenheit an, mich zu nerven. Unbestritten ist nach meiner Ansicht die Notwendigkeit, allen Vorwürfen bis zum letzten Detail nachzugehen. Auch dann, wenn die Übergriffe nach unserer Rechtssprechung verjährt sind. Nicht um Täter an den Pranger zu stellen; nicht um Rache zu üben. Vielmehr ist eine solche Aufarbeitung für die Opfer wichtig. Viele Jahre haben sie sich gequält. Begleitet von Selbstvorwürfen haben sie zweifelhafte Ideen einer Mitschuld jahrelang auf ihren Seelen herumgetragen. Kinderseelen, die einmal so tief verletzt niemals wieder zu hundert Prozent ausheilen können. Auch wenn es für einige sehr spät, für manche zu spät kommt, muss gerade den Opfern klar gemacht werden, dass sie keinerlei Schuld auf sich geladen haben (wobei Schuld ein Begriff ist, den ich anders definiere als dies in unserer Gesellschaft üblich ist).
Dennoch - ich bin genervt. Vor allem, weil ich kein Freund von institutionalisierter Religion bin und vor allem den großen Kirchen ausgesprochen skeptisch gegenüber stehe. Eigentlich könnte ich mich in den Chor derjenigen einreihen, die sagen: "Da seht Ihr es - Eure überkommenen Moralvorstellungen sind die Ursache für so viel Leid." Und anfänglich war ich wohl auch geneigt, so zu argumentieren.
Aber ganz objektiv betrachtet hat sexueller Missbrauch von Kindern nichts mit Katholizismus, Internaten oder irgend was anderem zu tun. Sicher gibt es die ein oder anderen Umstände, die gewisse menschlichen Abgründen zuträglich ist (in dem Sinne, dass sie deutlicher zu Tage treten, oder sie sich schneller auftun). Aber was sollen wir machen? Alle Internate schließen, Klassenfahrten verbieten und Kindern den Kontakt zur Kirche und allen anderen Jugendorganisationen untersagen?
Tatsächlich hat der Missbrauch von Kindern eher etwas mit Vertrauen zu tun. Missbrauchtes Vertrauen. Denn diese schwere Verletzung der Seele erfahren Kinder und auch Jugendliche nicht vorwiegend vom fremden Mann (oder durchaus auch Frau) von der Straße, sondern in der größten Zahl der Fälle Durch Menschen aus ihrem unmittelbaren Umfeld. Von nahen Verwandten, engen Freunden der Familie oder auch im eigenen Freundeskreis.
Daher ist die Anweisung an Kinder, nicht mit fremden Personen zu sprechen, oder gar mit ihnen mitzugehen, sicherlich ein guter Rat. Aber wer seine Kinder eben nur auf diese Gefahrensituation vorbereitet, handelt nachlässig. 80% (!) der Täter kommen aus dem unmittelbaren sozialen Umfeld der Opfer.
Vielmehr ist es wichtig, starke und selbstbewusste Kinder zu erziehen, die sich durchaus trauen, ihre eigenen Wünsche und Vorstellungen vor die Anliegen von Verwandten und Gästen zu stellen.
Das geht schon los, wenn ein Kind beim Besuch von Tante X nicht geküsst werden möchte und die Eltern es aber praktisch nötigen, dies doch über sich ergehen zu lassen. Dann bedeutet das für das Kind nichts anderes als, dass seine eigenen Bedürfnisse (in diesem Fall seelisch UND körperlich) hinter den Wünschen von Anderen anzustellen sind. Das erzeugt natürlich auch eine Hemmung, sich erstens gegen Übergriffe zur Wehr zu setzen und zweitens auch eine Hemmung, sich nach einem wie auch immer gearteten Vorfall an die Eltern zu wenden, welche einen bei der eben geschilderten Situation ja genau die waren, die das Kind in die unangenehme Situation gezwungen haben.
Auch in den Fällen, die nun durch die Medien gehen, handelt es sich um Missbrauch von Vertrauen. Vertrauen, das Eltern, der Staat und die Kirche in Autoritätspersonen gesetzt hat, das aber aufs allerschlimmste missbraucht worden ist. Autoritätspersonen und Personen, denen die Kinder und Jugendlichen sicher auch in vielen Fällen vertraut haben. Oft Menschen, die ihnen Schutz, Geborgenheit und Erziehung zukommen lassen sollten.
Bei dieser Betrachtung ist der Mord an Kinderseelen, wie ich Gewalt und sexuellen Missbrauch an Kindern gerne nenne, sicher eines der hinterhältigsten und grausamsten Verbrechen überhaupt.
Aber es ist eben ein Verbrechen, das Menschen begehen. Menschen fast jeden Alters, aller Gesellschaftssichten und jeder Bildungs- und Glaubensausrichtung. Es ist kein Verbrechen, für das Pfarrer prädestiniert sind. Pfarrer sind nämlich (auch wenn ihnen dieses Recht oft abgesprochen wird) erst mal Menschen. Es ist ein Verbrechen, das Väter, Mütter, Brüder, Schwestern, Freunde, Verwandte begehen. Sie sind immer unter uns.
Es gibt eine Schätzung, die davon ausgeht, dass JEDES VIERTE MÄDCHEN bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres sexuelle Übergriffe (in unterschiedlicher Ausprägung) erlebt. Wer aber glaubt, es handle sich um ein Problem, das Jungen nicht betreffen kann, der irrt gewaltig. Immerhin jeder elfte (!) Junge erleidet bis zu seinem 18. Geburtstag sexuellen Missbrauch.
Es gibt natürlich bestimmte Muster, die sich scheinbar immer aufs neue wiederholen: die Täter waren in den allermeisten Fällen selbst Opfer; besonders leicht werden Kinder aus autoritären Familien zu Opfern; Angst vor Strafe und Schande ermöglichen erst die extrem hohe Dunkelziffer bei Sexualverbrechen, die das Bundeskriminalamt mit 90% (!!) angibt. Das heißt: für jeden Fall, der aktenkundig wird, gibt es neun Fälle, die nie ans Licht kommen.
Trotzdem: wie schon erwähnt, ist das kein Problem irgend einer Gruppe in der Gesellschaft. Es geht um alle sozialen Schichten, alle Berufsgruppen, alle Glaubensrichtungen, alle Menschen.
Daher fordere ich:
Wir müssen offen und unvoreingenommen an das Thema herangehen. Sehen wir erst einmal von Schuldzuweisungen und Vorwürfen ab. Erkennen wir, dass es sich um ein gesamtgesellschaftliches Problem handelt, das gesamtgesellschaftlich angegangen werden muss. Wir müssen öffentlich darüber diskutieren. Jedes Tabu, das wir im Dunklen lassen, bietet Raum für Geheimnisse und Drohungen.
Und dennoch warne ich vor US-Amerikanischen Zuständen in der Erziehung. Dort werden 8jährige Jungs vor Gericht gezerrt, die ihrer 4jährigen Schwester beim Wasserlassen helfen. Dort wagen Eltern nicht mehr, ihre Kinder richtig in den Arm zu nehmen, weil die Nachbarn sie anzeigen könnten.
Vor allem letzteres führt nach Ansicht von Entwicklungspsychologen zu Verhaltensstörungen in Richtung erhöhter Aggressivität und Gewaltbereitschaft.
Wir sind Menschen. Das bedeutet, wir sind körperliche und sexuelle Wesen. Jeder braucht zum Leben auch körperliche Zuwendung. Und die gute Art der Zuwendung macht Kinder stark und selbstbewusst. Und Kinder haben ein sehr feines Gespür für die richtige und die falsche Art der Zuwendung.
Das heißt: ihre Bedürfnisse sind entscheidend. Nicht die Moral oder Bedürfnisse von uns Erwachsenen.
2 Kommentare:
Am Ende gibts nen guten Witz zum Christentum, der passend ist :D
http://www.youtube.com/watch?v=TsWLyy8Uin0
Super. Auch alles vor dem Witz :-)
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